Senatsempfang zu Ehren von SL
Mit einem Empfang im Rathaus geehrt zu werden - damit hatte wohl keine/r der Gründer/innen der "Krüppelselbsthilfe e.V." vor über dreißig Jahren gerechnet; mal ganz abgesehen davon, dass eine eigene Beratungsstelle noch in weiter Ferne lag und die meisten Mitglieder mangels barrierefreien Zugangs zum Rathaus wohl gar nicht erst bis zur Feierlichkeit vorgedrungen wären. Und vermutlich hätten die meisten Mitglieder damals eine solche Ehrung wohl empört abgelehnt. Doch aus der "Krüppelselbsthilfe" wurde "SelbstBestimmt Leben" und im November 1986 eröffnete die gleichnamige Beratungsstelle für behinderte Menschen ihre Pforten. Daran erinnerten Swantje Köbsell und Horst Frehe im Rahmen eines Empfanges anlässlich der Eröffnung der Beratungsstelle vor 25 Jahren. Hierzu hatte der Präsident des Senats der Freien Hansestadt Bremen, Jens Böhrnsen, für den 24. November in den Kaminsaal des Rathauses eingeladen. Etwa 100 Gäste konnte die stellvertretende SL-Vorstandsvositzende, Petra Wontorra, zu diesem feierlichen Ereignis begrüßen.
Dass man sich heute eine solche Ehrung "gefallen" lässt und sich sogar wirklich geehrt fühlt anstatt sich mit den "nichtbehinderten Behinderern" anzulegen, hat viel damit zu tun, dass sich die Situation behinderter Menschen in Bremen in der Zwischenzeit in vielen Bereichen deutlich gebessert hat. Und das sei auch das Verdienst von SelbstBestimmt Leben, meinten Köbsell und Frehe, die den Verein und die Beratungsstelle von Anfang an begleitet haben. Darauf wies auch Jens Böhrnsen, Bremens Bürgermeister und Gastgeber des Empfangs, in seiner Begrüßungsrede hin. Er unterstrich aber auch, dass es wohl weiterhin genug zu tun gibt, und nannte als Beispiel die mangelnde Barrierefreiheit der neuen Regio-S-Bahn-Züge. Börnsen sagte zu, dass er die Bemühungen behinderter Menschen um gleichberechtigte Teilhabe nach Kräften unterstützen werde.
"Kooperationspartner waren und bleiben wichtig!"
SelbstBestimmt Leben hat durch Provokation und Konfrontation einiges auf den Weg gebracht. Aber bei allem Selbstbewusstsein: ohne Mitstreiter und Kooperationspartner wäre vieles nicht erreicht worden. Besonders hervorzuheben ist hier die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Verbänden und Organisationen der Behindertenselbsthilfe in Bremen.
An etwas ungewöhnlichere Kooperationen erinnerten Horst Janus und Angelika Zollmann in einem Interview mit Jochen Goens, SL-Vorstandsvorsitzender. Janus, Pastor bei der Bremischen Evangelischen Kirche, berichtete von dem Kongress "enthinderungen", zu dem im Jahr 2000 viele Teilnehmer/innen aus dem gesamten Bundesgebiet nach Bremen gekommen waren, um über neue Wege in Behindertenpolitik und Behindertenhilfe nachzudenken. Dieser Kongress war von sehr unterschiedlichen Partnern vorbereitet worden: die Bremische Evangelische Kirche, das Integrationsamt, Friedehorst, die Architektenkammer, das Design-Zentrum und eben auch SelbstBestimmt Leben. Janus erinnerte daran, dass die Zusammenarbeit dieser doch sehr unterschiedlichen und in ihren Positionen bisweilen auch sehr gegensätzlichen Partner nicht immer ganz leicht gewesen sei. Er habe aber in dieser Zeit schätzen gelernt, mit welcher Klarheit, Hartnäckigkeit und mit welchem Sachverstand SelbstBestimmt Leben seine Positionen vertreten habe, ohne respektlos zu sein. Überhaupt sei es für ihn eine wesentliche Erkenntnis gewesen, wie wichtig es ist, dass behinderte Menschen selbst formulieren, was sie brauchen.
Zu einer sehr ähnlichen Bewertung kam Anglika Zollmann von der Bremischen Zentralstelle zur Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau (ZGF). Die ZGF, SelbstBestimmt Leben und das Bremer Netzwerk behinderter Frauen waren die treibenden Kräfte eines Projektes, das vor drei Jahren mit einem öffentlichen ExpertInnengespräch 2008 seinen Anfang nahm und dann im Oktober 2011 auch den gewünschten Erfolg zeigte: die Eröffnung einer barrierefreien gynäkologischen Praxis in Bremen, die erste ihrer Art in Bremen und eine der ersten in Deutschland überhaupt. Dafür war es notwendig, verschiedenste Kooperationspartner mit teilweise sehr unterschiedlichen Sichtweisen und Interessen mit ins Boot zu holen. Aber SelbstBestimmt Leben habe mit einer gesunden Mischung aus Hartnäckigkeit und Kompromissbereitschaft wesentlich zum Erfolg beigetragen.
Das Rathaus: schön aber nicht barrierefrei
Dass es noch einiges für SelbstbBestimmt Leben und die übrigen Interessensvertretungen behinderter Menschen in Bremen zu tun gibt, wurde bereits am Rande der Veranstaltung deutlich: der Haupteingang zum Rathaus ist nämlich nach wie vor nicht barrierefrei. Rollstuhlfahrer/innen können nur durch einen Hintereingang über einen Lastenaufzug mit einem Abstecher durch eine Küche in das Rathaus und seine oberen Etagen gelangen. Dazu die beiden SL-Vorsitzenden Jochen Goens und Petra Wontorra: "Wir haben lange überlegt, wie wir damit bei unserem Empfang umgehen sollen. Denn wir setzen uns seit über einem Vierteljahrhundert dafür ein, dass behinderte Menschen nicht abgesondert, ausgegrenzt und benachteiligt werden. Deshalb haben wir viele der geladenen Gäste, die keinen Rollstuhl brauchen, gebeten, auch den Hintereingang zu nutzen, und alle, die wir erreicht haben, haben da mitgemacht. So wurde aus dem Hinter- ein zweiter Haupteingang." Aber die beiden denken schon weiter: "Wir haben die Rathausmitarbeiter und -mitarbeiterinnen und nicht zuletzt den Bürgermeister bei den Vorbereitungen und beim Empfang selbst unseren besonderen Bedürfnissen gegenüber als sehr aufgeschlossen und hilfsbereit erlebt. Vielleicht haben sie dabei selbst erkannt, dass die jetzige Eingangssituation so nicht bleiben kann. Ein so symbolträchtiges Gebäude wie das Rathaus muss allen Bürgern und Bürgerinnen gleich offen stehen - und zwar durch den Vordereingang!"
Wenn Sie mehr über die Geschichte der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung und der Beratungsstelle SelbstBestimmt Leben Bremen erfahren möchten, klicken Sie bitte hier.
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